Tagebücher in der pädiatrischen Intensivstation

Studien zum Tagebuch

Tagebücher in der pädiatrischen Intensivstation

Intensivtagebücher auf pädiatrischen Intensivstationen (PICU) unterscheiden sich geringfügig von Tagebüchern auf Erwachsenen-Intensivstationen. Die Unterschiede sind: Vor allem die jüngsten PatientInnen können die Tagebücher nicht sofort während oder nach dem Intensivaufenthalt lesen, und im Allgemeinen enthalten PICU-Tagebücher mehr Aufkleber und Smilies. :-) Gawronski et al (2022) führten ein Tagebuch auf einer PICU in Italien durch und werteten die Meinungen von Eltern und des Teams aus. Alle Kinder mit Beatmung ≥48h wurden eingeschlossen, die Eltern wurden 30 Tage nach der Entlassung befragt. Im Ergebnis konnten 20 Tagebücher mit insgesamt 275 Einträgen ausgewertet werden, was im Mittel 14 Einträge pro Tagebuch ergibt. Die Mehrheit der Einträge wurde von Familien geschrieben und 27% von MitarbeiterInnen; Interessanterweise haben 60% der MitarbeiterInnen mindestens einmal zum Tagebuch beigetragen. Für die meisten Eltern ist das Schreiben eines Tagebuchs hilfreich, um Gefühle auszudrücken, da das Schreiben für sie einfacher war, als über die Erfahrungen zu sprechen. Die Eltern waren der Meinung, dass Tagebücher auch eine Umwandlung der PICU-Erfahrungen in etwas Positives beinhalteten, das dem Kind einige Zeit später helfen kann. Das Tagebuch wurde als Werkzeug für Kommunikation und Reflexion verwendet. MitarbeiterInnen berichteten über das Tagebuch als hilfreiches Werkzeug, das die Beziehung zur Familie verbesserte und sie an die Situation der Eltern erinnerte. Barrieren waren aus Sicht der MitarbeiterInnen mangelnde Privatsphäre, Arbeitsbelastung und ein begrenztes Verständnis des Tagebuchs; Familien wünschten sich, dass mehr MitarbeiterInnen zum Tagebuch beitragen. Mehr Partizipation und Information würden die Umsetzung verbessern. Die AutorInnen folgerten, dass PICU-Tagebücher auf pädiatrischen Intensivstationen machbar sind und als vorteilhaft für Eltern und MitarbeiterInnen wahrgenommen werden. Gut gemacht!

Gawronski O, Sansone V, Cancani F, Di Nardo M, Rossi A, Gagliardi C, De Ranieri C, Satta T, Dall'Oglio I, Tiozzo E, Alvaro R, Raponi M, Cecchetti C. Implementation of paediatric intensive care unit diaries: Feasibility and opinions of parents and healthcare providers. Aust Crit Care. 2022 Mar 16: S1036-7314 (22) 00012-1.

Intensivtagebücher zur Reduktion von PTBS Symptomen

Die Aufnahme eines geliebten Menschen auf einer Intensivstation führt zu hohem psycho-emotionalem Stress in Familien. Rice et al. (2022) aus den USA führten ein Pilot-RCT mit 23 EhepartnerInnen durch, die an der Tagebuchgruppe teilnahmen, und 18 EhepartnerInnen in normaler Versorgung ohne Tagebuch. Aufgrund der Covid-bezogenen Besuchsrestriktionen musste die Rekrutierung reduziert werden und die Studie ist leider unterpowert. Die vorläufigen Ergebnisse zeigten, dass der PTBS-Score in der Kontrollgruppe anstieg und in der Interventionsgruppe abnahm, wenn auch nicht signifikant. Mehr PatientInnen und Familien werden benötigt, um die Ergebnisse zu bestätigen. Qualitatives Feedback von den Familien lieferte positive Antworten: „Es half, Gefühle zu Papier zu bringen und den täglichen Fortschritt zu verfolgen." Die AutorInnen folgerten: „Die Erfahrung auf Intensivstation ist für Familienmitglieder traumatisierend und eine einfache Geste der Bereitstellung von Intensivtagebüchern (...) kann helfen, ihre emotionale Belastung zu reduzieren."

Rice RN, Qualls BW, Carey MG. Use of Diaries for Family Members of Intensive Care Unit Patients to Reduce Long-Term PTSD: A Pilot Study. J Patient Exp. 2022 Jun 3; 9:23743735221105681.

Verwandte Studien

Cecilia Glimelius schrieb eine kurze Zusammenfassung einer Studie.
@Cecilia, vielen Dank!

Die Nachsorge nach der Intensivstation zu verschiedenen Zeitpunkten gibt den PatientInnenen die Flexibilität, zu entscheiden, wann sie teilnehmen möchten

Die Registerstudie beschreibt und erforscht Merkmale und Determinanten für den Besuch / Nichtbesuch einer von Pflegenden geführten Klinik (NLC) für PatientInnen mit einer Intensivaufenthaltsdauer von ≥72 Stunden, die an einem 6-monatigen Follow-up-Programm teilgenommen haben, das Besuche im NLC nach 2 und 6 Monaten anbietet. Es beschreibt auch die gesundheitsbezogene Lebensqualität unter Verwendung von SF-36-Daten, nach 2-, 6- und 12-monatiger Entlassung von der Intensivstation. Von 656 PatientInnen besuchten 57% gelegentlich den NLC. Diese PatientInnen waren jünger (P=.000), hatten niedrigere Krankehistschwere (p=.001) und höhere gesundheitsbezogene Lebensqualität (SF-36 Physical Health Domain Scores) nach 2 Monaten (P<.05) im Vergleich zu denen, die überhaupt nicht kamen. BesucherInnen nach nur 2 Monaten waren jünger, waren kürzer auf der Intensivstation und höhere körperliche und mentale Domänenwerte als PatientInnen, die nur nach 6 Monaten zu Besuch kamen. PatientInnen, die den NLC besuchten, erzielten in allen Bereichen von 2 bis 12 Monaten signifikant höhere Ergebnisse, während PatientInnen, die nicht zu Besuch kamen, dies in vier von acht Domänen im gleichen Zeitraum taten. Die individuellen PatientInnenmerkmale und der aktuelle Gesundheitszustand scheinen die Besuche im NLC zu beeinflussen oder nicht.

Glimelius Petersson C, Jakobsson L, Westergren A, Bergbom I. Factors and health-related quality of life associated with participation in a post-ICU follow-up. A register study. Acta Anaesthesiol Scand. 2021 Aug; 65(7): 902-911. doi10.1111/aas.13811.

Psychiatrische Ergebnisse bei IntensivpatientInnen mit vs ohne Familienbesuch

Moss et al. (2022) führten eine retrospektive Analyse der Inzidenz psychiatrischer Störungen bei IntensivpatientInnen vor der Pandemie mit oder ohne Familienbesuch während ihres Aufenthalts auf der Intensivstation durch. Insgesamt hatten von 14.433 überlebenden PatientInnen 96% Besuche und 4% nicht. Insgesamt hatten 35% der PatientInnen eine psychiatrische Störung, aber PatientInnen mit Familienbesuchen während des Aufenthalts auf der Intensivstation hatten ein um 21% signifikant geringeres Risiko für die Entwicklung einer psychiatrischen Störung. Familien sind für PatientInnen wichtig!

Moss SJ, et al. Psychiatric Outcomes in ICU Patients With Family Visitation: A Population-Based Retrospective Cohort Study. Chest. 2022 Mar 7: S0012-3692(22)00419-6.

Besuchsrichtlinien

Aufgrund der Covid-Pandemie haben mehrere Regierungen und Krankenhäuser Besuchsbeschränkungen erlassen. Fiest et al. (2022) aus Kanada veröffentlichten eine evidenzbasierte Konsenserklärung über Besuchsrichtlinien. Die AutorInnen identifizierten drei Bereiche für die Verbesserung der Praxis, darunter Klarheit, Zugänglichkeit und Machbarkeit. Sie entwickelten mehrere Empfehlungen, um die Erfahrungen der Familien der PatientInnen und des Gesundheitspersonals mit sozialer Interaktion auch während Pandemien zu verbessern.

Fiest KM, et al. Evidence-informed consensus statements to guide COVID-19 patient visitation policies: results from a national stakeholder meeting. Can J Anaesth. 2022 Apr 1:1–12.

Tägliche schriftliche Zusammenfassungen zur Versorgung

Greenberg et al. (2022) aus den USA führten eine RCT mit 252 Familien von Familien von Intensivpatienten durch und verglichen täglich schriftliche Zusammenfassungen von Problemen, Ursachen, Management und Fortschritten mit der üblichen Kommunikation. Im Ergebnis zeigten Familien nach zwei Wochen, in denen sie täglich schriftliche Zusammenfassungen erhielten, eine verbesserte Zufriedenheit und weniger Angstzustände, Depressionen und akute Stresssymptome.

Greenberg JA, et al. Daily Written Care Summaries for Families of Critically Ill Patients: A Randomized Controlled Trial. Crit Care Med. 2022 May 23.

Arbeitslosigkeit als Risikofaktor für PICS-F

Lobato et al (2022) aus Portugal identifizierten nach der Analyse der Daten von 164 Familienmitgliedern drei Monate nach der Entlassung der PatientInnen, dass Arbeitslosigkeit ein signifikanter Risikofaktor für die Entwicklung der Post-Intensiv-Syndrom-Familie ist, d.h. emotionaler Stress, Depression und Angstzustände. Wir denken, das Gesundheitssystem und die Art der Versicherung könnten dabei eine Rolle spielen.

Labato et al. Risk factors associated with post-intensive care syndrome in family members (PICS-F): A prospective observational study. Journal of the Intensive Care Society (2022) June 15th.

Sunburn – schlechte Nachrichten überbringen

Es ist immer schwierig, Familien nach einem Trauma schlechte Nachrichten zu überbringen. Hier ist eine kurze Zusammenfassung, einschließlich eines Studienprotokolls von Velez

Velez D, et al SUNBURN: a protocol for delivering bad news in trauma and acute care surgery. Trauma Surg Acute Care Open. 2022 Feb 9; 7(1): e000851.

Die Rolle der PsychiaterInnen?

Psychische Gesundheit ist ein wichtiges Thema für kritisch kranke PatientInnen während und nach ihrer intensivmedizinischen Behandlung, aber es ist unklar, welche Rolle PsychiaterInnen bei der Unterstützung der PatientInnen spielen. Bieber et al. (2022) befragten 373 MitarbeiterInnen von Intensivstationen sowie PsychiaterInnen und stellten fest, dass etwa die Hälfte der Befragten von Intensivstationen nie Interaktionen mit PsychiaterInnen hatte. Es wurden viele Ideen formuliert, wie PsychiaterInnen das Outcome der PatientInnen durch eine verstärkte Integration in die Behandlung unterstützen könnten: Frühzeitige psychologische Interventionen zur Reduktion von Angst und Stress, zur Stärkung des PatientInnen und zur Verringerung der Häufigkeit von Delirien sowie die Unterstützung von Angehörigen wurden dabei als wichtige Versorgungsthemen genannt.

Bieber ED et al. Psychiatry's role in the prevention of post-intensive care mental health impairment: stakeholder survey. BMC Psychiatry. 2022 Mar 18; 22(1):198.

Depression bei PatientInnen mit Sepsis vs. Covid

Es ist gut untersucht, dass SepsispatientInnen körperliche, kognitive und psychische mit den Langzeitfolgen nach der kritischen Erkrankung aufweisen (PICS). Ein Vergleich der Langzeitfolgen zwischen symptomatischen Post-COVID- und Post-Sepsis-PatientInnen zeigte, dass Depressionssymptome häufiger bei Post-COVID-PatientInnen (insgesamt und auf der Intensivstation behandelt) auftraten. Insgesamt hatten die Symptome aber eine große Überschneidung mit den Symptomen von Fatique. Ob Post-COVID-PatientInnen wirklich belasteter sind als Post-SepispatientInnen lässt sich folglich aus den Ergebnissen nicht ableiten.

Stallmach A et al. Comparison of fatigue, cognitive dysfunction and psychological disorders in post-COVID patients and patients after sepsis: is there a specific constellation? Infection. 2022 Jun; 50(3): 661-669.

Einblick

Intensivtagebuch als Lehr- und Lerngegenstand in der Weiterbildung „Intensivpflege und Anästhesie“ nach der WBVO-Pflege-NRW

Seit über 10 Jahren wird das Thema Intensivtagebuch in Deutschland in Fachweiterbildungen unterrichtet. Wir haben mit Ralf Moritz, M.A., Lehrer Pflege und Gesundheit, Fachkrankenpfleger für Intensivpflege und Anästhesie, RbP, an der Universität Köln gesprochen, der uns Einblicke gewährte wie das Intensivtagebuch dort seit 2017 integriert ist, die Lehrinhalte vermittelt werden und die Resonanz der Teilnehmenden ausfällt. Fazit: Allgemeine Verbreitung in Deutschland, Stundenanteil in der Fachweiterbildung an der Uniklinik Köln und nachträgliches Implementierungspotential steigend!

In NRW gibt es seit 2009 eine landesrechtliche Regelung für die Weiterbildung ‚Intensivpflege und Anästhesie‘. Weder das Intensivtagebuch noch das Post-Intensive-Care-Syndrome (PICS) sind beispielhafte Inhalte der WBVO, allerdings lassen sich die Themen den Modulen „Beziehungsgestaltung“ und „Professionelles Handeln in komplexen Pflegesituationen mit bewusstseins-, wahrnehmungs- und entwicklungsbeeinträchtigten Menschen“ zuordnen. Seit 2017 liegt der Fokus nicht primär auf medizinischen, sondern vermehrt auf (intensiv-) pflegerischen Inhalten innerhalb der Fachweiterbildung. Zu diesem Zeitpunkt lagen bereits eine Vielzahl an Publikationen und eine gute Evidenz zum PICS und Intensivtagebuch vor, so dass beides in das Modulhandbuch aufgenommen wurde – das Intensivtagebuch, eine nichtmedizinische Intervention als exemplarische Pflegemaßnahme für PatientInnen, Bezugspersonen und Pflegepersonal von hohem Wert, der über den Intensivaufenthalt hinausreichen kann. Seit Integration hat das Thema einen immer größeren Stundenumfang erhalten. Neben Impulsvorträgen durch die PflegepädagogInnen der Weiterbildung erfolgt die Beschäftigung der WeiterbildungsteilnehmerInnen primär durch Arbeitsaufträge: Textarbeit, eigenen Quellenrecherche und die Gestaltung eigener Lehrinhalte. So sind in den letzten beiden Jahren Lehrvideos, Podcasts, One-Minute-Wonder (einseitige Schulungsunterlagen), Wikis und Präsentationen entstanden. Im letzten Jahr wurden mit Jannik Kuzma und seiner Partnerin erstmals Gäste eingeladen, die aus PatientInnen- und Angehörigenperspektive zum Intensivtagebuch berichten und gemeinsam mit Teilnehmenden diskutiert haben. Auch in diesem Jahr ist eine vergleichbare Veranstaltung mit weiteren Gästen vorgesehen. Die Rückmeldung der Teilnehmenden zum Intensivtagebuch ist sehr positiv, wie auch die freie Themenwahl bei den Hausarbeiten zeigt. Über die Implementierung auf den Stationen liegen (noch) keine zuverlässigen Daten vor. Aus Gesprächen mit den TeilnehmerInnen wird allerdings zurückgemeldet, dass es vermehrt Projekte in dieser Richtung gibt und in den Teams auf Station diskutiert wird. Einige der AbsolventInnen sind bestrebt, nach der Weiterbildung auf ihrer Station Intensivtagebücher anzustoßen. Aufgrund dessen ist in Planung, das Thema zukünftig in das Modul „Projektmanagement“ zu integrieren, damit anhand von Implementierungstheorien das Rüstzeug für eine erfolgreiche Einführung neuer Formate auf Station vermittelt und gelernt werden kann.


Verfasst von:

Dr. Peter Nydahl, RN BScN MScN, Pflegeforschung; Klinik für Anästhesie und operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Kiel

Dr. Teresa Deffner, Dipl.-Rehapsych. (FH), Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Universitätsklinikum Jena

Kristin Gabriel, Dipl. Medienwirtin, BA Kunsthistorikerin, Yogalehrerin, Berlin

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„Nach dem Koma – Mit einem Tagebuch zurück ins Leben finden”

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